Die Geschichte von Champus
- Chantal

- 28. März
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 16. Apr.
In einem Dorf, in dem heute nicht einmal 600 Menschen leben, erblickte vor 21 Jahren ein besonderes Fohlen das Licht der Welt – ein Fohlen, das später zu einem wahrlichen Riesen seiner Rasse heranwachsen und seinen Lebensabend über 1'000 Kilometer entfernt verbringen sollte.
Heute vor 21 Jahren wurde Champus in einem kleinen nordfriesländischen Dorf geboren - seine Abstammung liess auf eine vielversprechende Karriere im Sport hoffen. Im Alter von vier Jahren zog er in die Schweiz - und tatsächlich: Zwei Jahre später, mit sechs Jahren, wurde er bereits Erstklassierter bei einem Springturnier. Über die Jahre hinweg nahm Champus mit namenhaften Reitern an Prüfungen mit Hindernishöhen von bis zu 1.35 Metern teil. Die Aufzeichnungen von Swiss Equestrian belegen, mit welcher Präzision und Sorgfalt er seine Aufgaben meisterte – von insgesamt fünfzig Starts fielen lediglich bei sieben Läufen Stangen.

Und doch kam es anders als erwartet: Im Alter von zehn Jahren wechselte Champus den Besitzer und den Sport. Der Grund? Er hatte Angst vor der Höhe. Ein Springpferd, das nicht weiter und höher springen will – was nun?
Champus fand ein neues, liebevolles Zuhause – und zugleich eine spannende neue Aufgabe. Die Frauen des Voltigevereins Stäfa nahmen ihn bei sich auf und förderten ihn mit Hingabe. Als vielseitiges und leistungsstarkes Pferd brillierte er in seiner neuen Disziplin: Vier Jahre lang war er erfolgreich im Voltigesport unterwegs und räumte bei sieben von neunzehn Turnieren mit seinem Team einen der ersten drei Plätze ab. Mit seinem sanften, freundlichen Wesen und seiner imposanten Grösse von 1.83 Metern war er der ideale Partner, um bis zu drei Voltigiererinnen gleichzeitig zu tragen. Der Voltigeverein Stäfa kämpfte sich mit ihrem Erfolgspferd Champus ganz nach oben und plante, den Sprung auf die internationale Ebene zu schaffen.
Doch bevor das fünfte Jahr beginnen und der Sprung in internationale Gewässer gelingen konnte, folgte der Schock: Champus lahmte. Eine Krongelenks-Arthrose setzte ihm zu. Die Voltige-Frauen handelten für das Wohlergehen dieses Pferdes, das sie so weit gebracht hatte und entschieden sich schweren Herzens, ihm die Belastung des Hochleistungssports nicht länger zuzumuten.

Ich selbst hatte im Sommer 2019 eigentlich mit Pferden abgeschlossen. Nach mehreren enttäuschenden und frustrierenden Erfahrungen – mit den Tieren ebenso wie mit den Menschen in der Szene – wollte ich nichts mehr mit ihnen zu tun haben. Drei Tage, nachdem ich endgültig beschlossen hatte, meine Reithose an den Nagel zu hängen, erhielt ich eine Nachricht von meiner Schwester. Eine befreundete Stallkollegin, die bereits ein Pferd vom Voltigeverein Stäfa übernommen hatte, wusste, dass Champus einen neuen Platz suchte. Und meine Schwester, die genau wusste, dass mein Herz für grosse Pferde schlägt, leitete mir die Informationen weiter.
In den zwei Jahren zuvor, während meiner erfolglosen Suche nach einem eigenen Pferd, hatte ich mir drei feste Kriterien zurechtgelegt:
1. Keine Stute
2. Kein Schimmel
3. Mindestens 1.70 Meter gross
Mit diesen Vorgaben im Kopf las ich die Anzeige. Zwei der drei Kriterien waren immerhin erfüllt – und wie! Das grösste Pferd, das ich bis dahin geritten hatte, war «gerade mal» 1.72 Meter gross gewesen. Dieser Schimmel hingegen setzte noch über zehn Zentimeter drauf!
Allein wegen seiner Grösse musste ich mir dieses Pferd ansehen. Am Abend vor dem Kennenlernen sagte ich scherzhaft: «Ich schaue mir ein Pippi Langstrumpf-Pferd an!»
Und dann stand ich ihm gegenüber. Seine Grösse, seine Eleganz, sein sanftmütiger Blick – all das überwältigte mich. Fast ungläubig, aber voller Vorfreude durfte ich ihn probereiten. Unser Start in der Halle war etwas holprig, doch schon nach zwei Runden hatten wir einen gemeinsamen Rhythmus gefunden – erstaunlich, wenn man bedenkt, dass ich in den letzten zwei Jahren kaum regelmässig geritten war.
Als wir schliesslich auf die angrenzende Wiese wechselten, auf der ein Parcours aufgebaut war, zeigte Champus, dass er alles andere als ein Angsthase war. Ganz im Gegenteil: Es kostete mich meine gesamte Kraft und Konzentration, ihn vom Sprung abzuwenden – denn ich selbst bin beim Springen ein totaler Angsthase!
Nach diesem ersten Kennenlernen am 30. Juni 2019 war meine Entscheidung längst gefallen, trotz der Fellfarbe, die ich nie haben wollte. Die Frage war nicht, ob Champus das richtige Pferd für mich war – sondern ob ich wirklich bereit war, ein eigenes Pferd zu haben.
Einen Tag bevor ich zusagte, dass ich Champus übernehmen würde, stieß ich auf ein Zitat, das mich innehalten liess: „Was wäre das Leben, hätten wir nicht den Mut, etwas zu riskieren?“ Vincent van Gogh hatte es auf den Punkt gebracht. Wenn es mit einem eigenen Pferd funktionieren sollte, dann nur mit Champus.
Dann ging alles ganz schnell. Am 31. Juli 2019 fuhr mein zukünftiges „Champus-Gotti“ mit mir – einem aufgeregten, hibbeligen Nervenbündel – nach Stäfa, um mein Pferd abzuholen. Zwar durfte ich Auto fahren, doch einen Anhänger lenken konnte und durfte ich nicht. Und seien wir ehrlich: In meinem Zustand wäre das für jedes Lebewesen im Anhänger eine Zumutung gewesen.
Das Verladen verlief reibungslos. Als erfahrener Turniergänger betrat Champus den Anhänger ohne Zögern, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Auch für die Voltige-Frauen war es wohl einfacher so – ein langer, tränenreicher Abschied hätte es nur schwerer gemacht. Bis heute kann ich mir nicht vorstellen, wie schwer es ihnen gefallen sein muss, diesen sanften Riesen gehen zu lassen.

An diesem Tag begann unsere gemeinsame Reise – Champus und ich. Doch schon nach wenigen Wochen standen wir vor den ersten Herausforderungen: Trotz seiner imposanten Statur hatte Champus Angst vor den Herbststürmen und suchte Sicherheit bei mir – eine Sicherheit, die ich ihm in unserer Kennenlernphase noch nicht geben konnte. Ein 1.83 Meter grosses Pferd, das Angst hat, ist eine ganz andere Herausforderung als ein scheuendes Pony.
Das Champus-Gotti hatte eine Idee: Reitstunden.
Eine Stunde nach der anderen half sie uns, Vertrauen aufzubauen und die Sicherheit zu gewinnen, die wir beide brauchten. Die erste Reitstunde war bewusst simpel: Ganze Bahn im Schritt reiten, während ich über meinen Alltag ausgefragt wurde. So wurde ich gezwungen, meinen Kopf anderweitig zu beschäftigen, anstatt mich ständig zu fragen, was Champus wohl erschrecken könnte. Und es funktionierte – mit jeder Einheit wuchsen wir enger zusammen.
Da ich grenznah wohnte, fand Champus sein neues Zuhause in einem Stall in Frankreich, unweit der Schweizer Grenze. Doch dann kam Corona – und mit der Pandemie das nächste grosse Problem: Während es in der Schweiz weiterhin erlaubt war, sein Pferd zu versorgen, galt in Frankreich eine strikte Ausgangssperre. Champus, der zu diesem Zeitpunkt aufgrund eines akuten Arthrose-Schubs auf Medikamente angewiesen war, durfte ich nicht mehr besuchen.
Eine Freundin brachte schliesslich eine Idee ins Spiel: Ein «Ferienaufenthalt» in der Schweiz, in einem Stall, den ich bereits von früher kannte.
Doch wie sollte ich ein Pferd, das ich offiziell gar nicht besuchen durfte, über eine geschlossene Grenze bringen?
Die Details dieser Aktion lasse ich lieber unerwähnt – bis heute bin ich mir nicht sicher, ob sie überhaupt legal war. Doch eines steht fest: Innerhalb kürzester Zeit bezog Champus sein neues Zuhause in der Schweiz und blieb auch dort – und wir legten zusammen richtig los.
Unzählige Ausritte, Reitstunden, Patrouillenritte, Gymkhanas und Ausflüge folgten - selbst im Schnee ein Snowboard hinter sich herziehen meisterte Champus mit Bravour. Auch der erste Sturz liess nicht lange auf sich warten: An einem gemütlichen Abend im Stall wollten wir mit den Pferden die Kühe in den Stall treiben. Ich, die noch nie ohne Sattel auf Champus geritten war, entschied mich, vorab ein wenig auf der angrenzenden Wiese zu üben – ohne Kühe. Doch schon nach wenigen Minuten verlor ich im schwungvollen Galopp und im anschliessenden Trab das Gleichgewicht, rutschte erst nach rechts, dann nach links und schliesslich wie ein Sack Kartoffeln wieder nach rechts und vom Pferd. Champus, ganz der erfahrene Voltige-Profi, blieb regungslos neben mir stehen und schaute mich mit grossen Augen an – als wollte er sagen: «Huch, warum liegst du denn da unten?»
Wir waren sogar gemeinsam schwimmen – etwas, das ich Champus hoch anrechne, denn Pfützen, Bäche und Brunnen gehören definitiv nicht zu seinen Lieblingsorten. Zwar streifte er mich dabei mit seinem Huf und brachte mich mehrmals in Bedrängnis, doch trotz dieser kleinen Zwischenfälle bleibt dieses Erlebnis eine unvergessliche Erinnerung, die mich mein Leben lang zum Lächeln bringen wird.

Champus war – und ist – das perfekte Pferd für mich. Ein Lehrmeister, dem ich nichts mehr beibringen musste, aber von dem ich unendlich viel lernen durfte. Reiterlich stehe ich heute an einem völlig anderen Punkt als damals, als ich ihn übernommen habe – das habe ich allein ihm zu verdanken. Doch er lehrte mich weit mehr als nur das Reiten: Dank ihm entwickelte ich Selbstvertrauen, wurde mutiger, lernte, Verantwortung zu übernehmen und achtsam mit mir und meiner Umwelt umzugehen. Er zeigte mir, wie viel meine Körpersprache bewirken kann – wie kleine Veränderungen eine grosse Wirkung haben. Champus wurde mein Fels in der Brandung, die eine Konstante, auf die ich mich jederzeit verlassen konnte.
Nach zwei weiteren situationsbedingten Umzügen kehrte Champus schliesslich in sein Heimatland zurück – in einen Stall mit hervorragender Infrastruktur, wenn auch ohne weitläufige Weiden. Da ich zu meinem Partner nach Deutschland zog, war dies die optimale Lösung.
Und doch wurde bald klar: Trotz der vielen Trainingsmöglichkeiten wollte Champus nicht mehr arbeiten. Warum? Mein Partner war inzwischen zu einem weiteren Felsen in der Brandung geworden – und ich bin bis heute überzeugt, dass Champus das spürte. Er entschied für sich, dass ich ihn nicht mehr in diesem Ausmass brauchte.
Nach nur drei Monaten im neuen Stall stand ich vor der bisher schwierigsten Entscheidung: Zwinge ich Champus dazu, weiterhin Leistung zu erbringen und versuche, mit seiner ungewöhnlichen Schreckhaftigkeit klar zu kommen, oder gönne ich ihm den wohlverdienten Ruhestand? Eigentlich war die Antwort von Anfang an klar – und doch fiel es mir unglaublich schwer, diesen Schritt zu gehen. Schliesslich bedeutete es auch, mir einzugestehen, dass mein Pferd mich nicht mehr brauchte. Ich suchte immer wieder die Einschätzung von anderen, bis das Pferde-Gotti zu mir sagte: "Eigentlich weisst du, was die richtige Entscheidung ist." Und sie hatte recht - ich wusste, Champus hat seinen Ruhestand verdient.
Einen Monat, nachdem ich meine Entscheidung getroffen hatte, zog Champus ein letztes Mal um – mit meinem festen Versprechen, dass dies sein endgültiges Zuhause sein würde und kein weiterer Umzug mehr folgen sollte.
So fanden wir im Herbst 2023 den Weg in einen Offenstall, nur fünf Autominuten von meinem Zuhause entfernt. In einer grossen Herde, die ausschliesslich aus Wallachen bestand, fand Champus schnell Anschluss.

Und seither? Seither geniesst er sein Rentnerleben in vollen Zügen: Er frisst Heu und Gras, trinkt aus Bächen, spielt mit seinen Freunden und sorgt mit frischem Schlamm und Dreck zuverlässig dafür, dass von seiner ursprünglichen weissen Fellfarbe nicht mehr viel zu sehen ist.
Und doch – er erkennt mein Auto, kommt wenn ich rufe. Vielleicht liegt es einfach daran, dass es normalerweise Futter gibt, wenn ich auftauche. Oder vielleicht freut er sich tatsächlich, mich zu sehen. Wer weiss das schon?
Heute feiert Champus seinen 21. Geburtstag – inmitten seiner Herde, genau dort, wo er sein möchte. Seine Tage sind erfüllt von Ruhe, Freundschaft und der Freiheit, einfach Pferd zu sein.
Doch seine Geschichte ist noch lange nicht zu Ende. Denn jedes Mal, wenn er mir mit wachem Blick entgegenkommt, wenn er sich genüsslich im Schlamm wälzt oder mich mit seinem sanften Wesen zum Lächeln bringt, schreibt er an seinem nächsten Kapitel – und ich freue mich darauf, es mit ihm zu erleben.
Happy Birthday, Digge. Auf hoffentlich noch viele weitere Jahre.



































Super super gschriebe, ha Hüehnerhut becho, au in de Auge! 🙃
Und in Stäfa bin ich ufgwachse, vor vieele vieele Jahre!!😘